Legasthenie: Wenn Lesen und Schreiben zur Qual werden
Viele Erstklässler freuen sich sehr darauf, endlich Lesen und Schreiben zu lernen. Dass aller Anfang schwer ist, zeigt sich dann innerhalb der ersten Schulwochen. Die Grundfähigkeiten Lesen und Schreiben sind nämlich nicht mühelos zu erlernen. Tägliche Übungen und viel Ausdauer sind notwendig und das ist ganz schön anstrengend. Ist der Knoten dann erstmal geplatzt, wird es aber viel leichter und zum Ende der zweiten Klasse ist für viele der Lernprozess abgeschlossen. Doch was ist, wenn das Lesen und Schreiben trotz Üben einfach nicht klappen will? Wenn die Buchstaben nicht im Kopf bleiben wollen und Lesen und Schreiben zur Qual werden? Eventuell handelt es sich dann um eine Lese-Rechtschreibstörung: eine Legasthenie.
Legasthenie: Was genau ist das?
Kinder, die unter einer Legasthenie leiden, haben massive Schwierigkeiten, das Lesen und Rechtschreiben zu erlernen. Das Störungsbild ist als Entwicklungsstörung anerkannt und im ICD-10 (Internationales Verzeichnis klassifizierter, psychischer Krankheiten) beschrieben. Dabei kann die Störung das Lesen und Schreiben oder nur eine der beiden Fertigkeiten betreffen. Folgende Merkmale führen laut ICD-10 zur Diagnose einer Legasthenie:
- deutliche Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht durch schlechte Beschulung, Augenprobleme oder Entwicklungsalter erklärbar ist
- starke Einschränkungen im Leseverständnis
- enorme Schwierigkeiten beim Vorlesen
- massive Schwierigkeiten beim Erlernen der Rechtschreibung
Die genannten Merkmale treten im Grundschulalter in Erscheinung und führen neben der Störung oft zu weiteren emotionalen und sozialen Auffälligkeiten und Problemen. Die schulischen Leistungen bleiben durch die Legasthenie häufig hinter dem Möglichen zurück und nicht selten entsteht ein Teufelskreis aus Lernschwierigkeiten, Misserfolg, Lernunlust und Demotivation. Mit einer Einschränkung der Intelligenz hat die Störung im Übrigen gar nichts zu tun. Die Kinder können durch das Störungsbild Ihre Intelligenz nur nicht deutlich machen und bleiben damit oft weit hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Mögliche Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung
Das komplexe Störungsbild der Legasthenie konnte bezüglich seiner Ursache noch nicht vollständig geklärt werden. Die Wissenschaft geht aber davon aus, dass viele Faktoren das Geschehen beeinflussen und es daher keine eindeutige Ursache gibt. Bereits geklärt ist aber eine genetische Komponente bei der Entstehung der Entwicklungsstörung. Die Lese-Rechtschreibstörung kommt in Familien deutlich gehäuft vor. Die Erblichkeit liegt bei etwa 70 %, wenn ein Elternteil unter einer Legasthenie leidet. Sind beide Elternteile betroffen, ist die Wahrscheinlichkeit noch größer, dass die Kinder ebenfalls eine Lese- und Rechtschreibstörung entwickeln. Die genetischen Auffälligkeiten betreffen die frühkindliche Hirnentwicklung. In Gehirnregionen, die mit Sprache zu tun haben, finden sich dabei Veränderungen. Die entsprechenden Gehirnareale sind weniger aktiv, zum Beispiel bei der Buchstaben-Laut-Zuordnung. Neben den genetischen Bedingungen sind auch Störungen in der Wortwahrnehmung, Wortverarbeitung und Rechtschreibbewusstheit als Ursachen der Legasthenie möglich. Eine Lese-Rechtschreibstörung ist nicht heilbar. Mit einer guten Förderung und Unterstützung kann das Störungsbild aber in den (schulischen) Alltag integriert werden und die Auswirkungen können deutlich minimiert werden. Heute gibt es bereits viele Förderprogramme, die gezielte Fortschritte bei Lesen und Schreiben ermöglichen.
Eine Legasthenie erkennen: typische Anzeichen und Signale
Wenn in der ersten Klasse der Lese- und Schreiberwerb nicht reibungslos gelingt, sollte das zunächst nicht beunruhigen. Das Erlernen von Lesen und Schreiben ist ein hochkomplexer Vorgang und die wenigsten Schulanfänger gehen mühelos durch die erste Klasse. Aller Anfang ist schließlich schwer. Schritt für Schritt wird es dann aber allmählich leichter und es sind immer wieder Lernfortschritte erkennbar. Im Verlauf der zweiten Klasse sollte das Lesen und Schreiben dann immer müheloser werden und das Kind immer sicher werden. Gelingt dies nicht, bleiben Lesen und Schreiben eine Qual und die schulischen Leistungen sind entsprechend schlecht. Dann sollte eine Legasthenie überprüft werden. Typische Anzeichen und Signale sind dabei:
- Das Lesen gelingt nur sehr mühsam. Das Kind stockt, liest undeutlich oder lässt Wörter, Wortteile und Buchstaben aus. Wörter, Buchstaben oder ganze Sätze werden hinzugefügt, verdreht oder vertauscht.
- Die Lesegeschwindigkeit bleibt hinter der altersgerechten Entwicklung zurück.
- Das Leseverständnis ist erschwert. Das Kind kann nicht oder kaum wiedergeben, was es gelesen hat.
- Längere Wörter können nicht korrekt nachgesprochen werden.
- Das Lernen von Gedichten ist erschwert.
- Reimwörter werden nur schwer oder gar nicht gefunden.
- Bei der Rechtschreibung kommt es zu einer sehr hohen Fehlerquote.
- Die Schrift ist nur schwer leserlich.
- Das Interesse am Schreiben ist nicht vorhanden. Schreibanlässe werden vermieden.
Zeigt das Kind Anzeichen des Störungsbildes, können Kinder- und Jugendpsychiater eine Diagnose vornehmen. Eltern können sich zunächst auch an die Lehrkraft wenden und zusammen mit der Beratungslehrkraft oder der Schulpsychologin beziehungsweise dem Schulpsychologen das weitere Vorgehen besprechen.
Konsequenzen und Auswirkungen: Wie einschneidend ist das Störungsbild?
Eine Legasthenie ist für betroffene Kinder leider oft eine schwere Qual: Tagtäglich werden sie damit konfrontiert, dass sie im Vergleich mit ihren Mitschülern unterliegen, weniger schnell und sicher lernen können und ihre schulischen Leistungen schlechter sind. Häufig betrifft dies auch nicht nur das Fach Deutsch. Insbesondere die Lesekompetenz ist für nahezu jedes Schulfach von Bedeutung: Textaufgaben in Mathematik, Sachtexte in Heimat- und Sachkunde und Biologie, später Fremdsprachen und Texte in den weiteren Nebenfächern. Ohne oder mit wenig Leseverständnis sind alle diese Aufgaben nur schwer zu bewältigen. Diese Umstände führen dann oft zu weiteren emotionalen und sozialen Schwierigkeiten. Die Kinder haben durch die Misserfolge oft ein schlechtes Selbstwertgefühl und erleben schulische Demotivation. Lernen macht keinen Spaß und bringt kaum Erfolg. Auch soziale Probleme im Klassengefüge bis hin zu Mobbing sind im Kontext einer Lese-Rechtschreibstörung fatalerweise häufig zu finden. Deshalb ist es ganz besonders wichtig, eine Legasthenie rechtzeitig zu erkennen. Wenn diese bekannt ist, kann das Kind sowohl eine gezielte Förderung erhalten als auch eine entsprechende Unterstützung und Nachteilanerkennung durch das Elternhaus und die Schule. Eine Diagnose ist für Kind und Eltern auch oft heilsam, da der Grund für die schulischen Probleme dann bekannt ist und mehr Verständnis aufgebracht werden kann.
Therapie und Förderung: Was können Schule, Eltern und Kind tun?
Wurde bei Ihrem Kind eine Legasthenie diagnostiziert, ist die weitere Therapie und Förderung Ihres Kindes von enormer Bedeutung. Wichtig ist zunächst, dem Kind die Erkrankung kindgerecht zu erklären und ihm dabei deutlich zu machen, dass es selbst keine Schuld an der Erkrankung hat. Vergleichen Sie das Störungsbild mit einer Sehschwäche oder einer Schwerhörigkeit, um Ihrem Kind zu verdeutlichen, dass die Ursachen körperlich bedingt sind und kein Zeichen von Dummheit oder Minderbegabung. Versuchen Sie insgesamt sehr gelassen und verständnisvoll mit Ihrem Kind und der Erkrankung umzugehen. Dabei helfen folgende Tipps:
- Informieren Sie die Schule über die Diagnose und führen Sie ein Gespräch über Nachteilsausgleiche. In vielen Bundesländern erhalten die Kinder Zeitzuschläge bei Proben und Schulaufgaben und die Rechtschreibung wird nicht gewertet.
- Bleiben Sie stets in Kontakt mit der Schule und der Klassenlehrkraft. Tauschen Sie sich über Lernfortschritte aus.
- Suchen Sie eine spezielle Beratungsstelle für Legasthenie auf und lassen Sie sich zu weiteren Fördermöglichkeiten beraten (Lerntherapie, Ergotherapie, Psychotherapie, Erziehungsberatungsstelle)
- Fördern Sie Ihr Kind und üben Sie mit ihm nach Anleitung durch die Fachkräfte. Übertreiben Sie es aber auch nicht, sondern sorgen Sie für genug Ausgleich zur Schule im Alltag.
- Sollte die Förderung im häuslichen Umfeld nicht möglich sein (Machtkämpfe, Konflikte, Überforderung), geben Sie diese komplett an die Fachkräfte ab. Eine gute Beziehung zu Ihrem Kind ist wichtig und sollte durch die Förderung nicht zerstört werden.
- Versuchen Sie für Ihr Kind ein Hobby zu finden, in dem es gut zurechtkommt und Erfolgserlebnisse feiern kann.
- Seien Sie stolz auf Ihr Kind, egal welche Schulnoten es erhält. Lebensglück und Erfolg hängen nicht nur von einer positiven Schullaufbahn ab. Versuchen Sie immer wieder gemeinsam, die Stärken des Kindes zu sehen und anzuerkennen.
- Suchen Sie bei Bedarf Kontakt zu anderen betroffenen Eltern und Kindern über eine Selbsthilfegruppe.
- Nutzen Sie spezielle Lernsoftware, die für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung geeignet ist.
- Informieren Sie sich beim Bundesverband für Legasthenie unter https://www.bvl-legasthenie.de/
Legasthenie und Schriftsteller? Alles ist möglich!
Agatha Christie, Hans Christian Andersen und John Irving. Das sind nur drei Schriftsteller, bei denen eine Legasthenie bekannt ist. Und es gibt noch viele mehr. Damit möchten wir Ihnen sagen: Alles ist möglich! Wir leben in einer hoch entwickelten Gesellschaft mit Rechtschreibsoftware, Förderung, Therapie und Nachteilsausgleichen. Versuchen Sie daher gelassen zu bleiben, und zwar alles zu unternehmen, was Ihnen und Ihrem Kind helfen kann, aber nicht zu verzweifeln. Im Laufe der Jahre wird die Legasthenie oft leichter beherrschbar und spielt immer weniger eine Rolle. Und übrigens: Albert Einstein, Bill Gates, Jamie Oliver, Walt Disney, Whoopi Goldberg und Galileo Galilei stehen ebenfalls auf der Liste berühmter Legastheniker.